Wo ist der Löwe?

Aus dem Tagebuch eines Tierfotografen.

Noch früh am Morgen stehen wir vor dem Draht des Eingangstors in einem Camp des Etosha Nationalparks im Norden Namibias und warten darauf, daß gleich die Tore geöffnet werden und ein neuer Safaritag anbricht. Dann endlich kommt der Ranger, öffnet das Tor und mit einer Staubfahne entfernen wir uns in Richtung der Wasserstelle Salvadora. Wir, das bedeutet Oskar, ein Fotografenkollege und ich. Jeden Tag wechseln wir uns ab. Einer fährt, nutzt Fahrer- und Beifahrerfenster, der andere sitzt hinten, auf Matratzen gebettet, zwischen unseren Rucksäcken und Ersatzrad. Zwei Schiebefenster und die Heckklappe lassen sich öffnen und die Scheibenstative befestigen.

Heute ist Oskar der Fahrer. Ich sitze hinten, alles gut gepolstert und vor Staub geschützt, denn dieser kriecht durch alle Ritzen. Morgens braucht man hinten warme Socken und einen dicken Pullover, so stellt man sich Afrika nicht vor. Nach einigen Kilometern steigt die Sonne empor, taucht alles in ein hellgelbes Licht und hinter den Scheiben wird es schnell angenehm warm. Bereits jetzt, als wir durch die trockene Grassavanne fahren, die sich bis zum Horizont erstreckt, sehen wir einige Familienherden Steppenzebras und Streifengnus die zum Teil auch mit Jungtieren den gleichen Weg zur Wasserstelle gehen.

Im besten Fotolicht kommen wir an. Wir sind die Ersten heute, die diesen wunderschönen Platz am Rande der knapp 6000 km² großen Etoshapfanne aufsuchen. Eine kleine Gruppe Zebras steht bereits trinkend am Wasser.
Da wir schon einige Tage in Etosha unterwegs sind, zwingt uns diese dennoch wunderschöne Szenerie nicht hinter die Kamera. Ich habe bereits Film Nr.41 eingelegt und hoffe nun auf andere Aktivitäten.

Nach einiger Zeit des Beobachtens nehmen wir unser zweites Frühstück im mittlerweile aufgewärmten Fahrzeug zu uns. Die Emaille- Tassen werden mit Fruchtsaft gefüllt, dazu Marie- Kekse. Ab und an kommt ein Fahrzeug vorbei, das aber alle sehr schnell wieder weiterzieht. Später bemerken wir, daß sich die Zebrafamilien nicht mehr zum Wasser wagen, sondern in 200m Entfernung stehen. Gleichzeitig denken wir an Großkatze oder Hyänen die vielleicht umherschleichen. Doch auch nach mehrmaligem Absuchen durch das Teleobjektiv entdecken wir nichts. Während ein oder zwei Stunden wagt sich kein Zebra ans Wasser. Wir sind uns ganz sicher, irgendwas liegt im Busch! Und wir sollten recht behalten. Plötzlich entdecken wir zwei Löwinnen, ca. 500m weit entfernt. Eine Löwin trottet langsam vor sich hin, setzt sich auf die Hinterfüße und beobachtet die Umgebung.

Bis zum frühen Nachmittag bleiben wir verharrend an der Wasserstelle, immer in der Hoffnung, daß die Löwinnen durstig zum Wasser kommen. Ich hatte schon mein Traumbild im Kopf: Eine Löwin frontal, die rote Zunge im Wasser, das Spiegelbild! Dieses Traumbild ist immer noch in meinem Kopf, aber nur dort. Später machen wir uns auf den Weg - zurück zum Camp. Als ich am Abend in den Schlafsack krieche denke ich an die schönen Bilder aus meinen Büchern und bin fast neidisch, weil ich nach Tagen noch keinen Löwen im Kasten habe.

Auch am nächsten Tag sind wir wieder bei Sonnenaufgang unterwegs. Diesmal bin ich der Fahrer, der Glückliche, der seine Füße an der Heizung wärmen kann. Bereits nach wenigen Kilometern Fahrt traute ich meinen Augen nicht. Ein großer Mähnenlöwe lag 10 m neben der Piste ! Auch Oskar schnellt hoch wie von der Tarantel gestochen, und wir können einige Aufnahmen machen.

Ohne uns auch nur den leisesten Hauch von Aufmerksamkeit zu widmen, liegt der Löwe da, als wäre er erstarrt. Körper und Kopf sind bewegungslos, im sanften Luftzug wehen die Haare der Mähne hin und her. Ich denke nur: Jetzt noch gähnen ! Dort, wohin der Löwe so lange seinen Blick richtet, haben wir nichts Auffälliges entdeckt. Plötzlich wendet er den Kopf und schaut zu uns. Keiner von uns denkt jetzt an Steuererhöhung oder Ozonloch. Später erhebt er sich langsam, blickt wieder konzentriert in eine Richtung und trottet gemütlich davon. Einmal blickt er zu uns zurück. Es ist ein beeindruckendes Erlebnis, so ein selbstsicheres Geschöpf, so majestätisch, in freier Wildbahn vor sich zu sehen.

Den ganzen Tag haben wir nur diese schöne Begegnung im Kopf, und voller Zufriedenheit, die tiefstehende Sonne im Rückspiegel, geht es zurück ins Camp. Spät am Abend, ums Lagerfeuer sitzend, können wir nicht begreifen, daß es Menschen gibt, die mit einem lauten Schuß so ein König der Tiere erlegen, um ihn mit Glasaugen und entblößten Zähnen an die Wand zu nageln.


Text und Fotos: © 2003 Dieter Höll